Abschied nach 42-jähriger Arbeit in der stationären Kinder – und Jugendhilfe
Ende Juni wurde unser langjähriger Mitarbeiter Gert Drechsler in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Ein guter Grund um zu erfahren wie er diese Zeit erlebt hat und einschätzt.
Interview mit Gert Drechsler – nach über 40 Jahren in der stationären Kinder – und Jugendhilfe geht er in seinen wohlverdienten Ruhestand
Gert, dein letzter Arbeitstag liegt nun nicht mehr in weiter Ferne. Kannst Du Dich noch an Deinen ersten Arbeitstag hier in Brauna erinnern?
Ja, es war ein warmer Tag Anfang August 1981 und in der Einrichtung (Schule und Kinderheim) gab es Ferienspiele. Ich betreute am Vormittag mit den Lehrern einen Malwettbewerb. Am Nachmittag sind wir mit den Jungs nach Kamenz ins Stadtbad gelaufen.
Hattest Du schon am Ende Deiner Schulzeit den Wunsch eine pädagogische Laufbahn einzuschlagen und mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten? Gab es vielleicht Menschen oder Ereignisse die Dich dazu inspiriert haben? Wo hast Du den Beruf des Pädagogen erlernt?
Nein, am Ende der Schulzeit hatte ich diesen Wunsch noch nicht. Ich erlernte zuerst einen Industrieberuf mit Abitur. Während meiner Armeezeit kamen Überlegungen auf eine pädagogische Laufbahn einzuschlagen. Durch eine Freundin, die als Erzieherin arbeitete, wurde ich auf diesen Beruf aufmerksam. Ein lebenslanger Job in der Fabrik erschien mir damals zu langweilig und eintönig.
Ich kam damals in Kontakt mit einem Vertreter vom Rat des Bezirkes Dresden – Abteilung Volksbildung. So konnte ich 1981 im Spezialkinderheim Ernst Thälmann (so hieß die Einrichtung damals) als Erzieherhelfer starten. Bedingung für meine Tätigkeit war eine Ausbildung. So begann ich in Großenhain meine 3-jährige Ausbildung zum Erzieher mit Lehrbefähigung für Sport. Um den Herausforderungen in der Arbeit mit den Jungen gut zu begegnen, schloss ich später ein 2-jähriges Direktstudium in Berlin ab (Der Abschluss dieser Spezialausbildung hieß „Erzieher für intellektuell geschädigte Kinder Jugendliche“). Danach arbeitet ich weiter in Brauna.
Über 40 Jahre in der stationären Kinder- und Jugendhilfe tätig zu sein war bestimmt nicht immer einfach. Was war Deine Motivation dafür?
Als ältestes Kind zu Hause war mir der Umgang mit Kindern nicht fremd. Mein Anspruch war mit den Kindern etwas zu erleben. Die Arbeit war und ist sehr abwechslungsreich, nicht stupide und eintönig. In einer Schicht kann der Abend ganz anders verlaufen, als Du es Dir am Mittag vorgestellt hast.
Eine weitere Motivation war die Verantwortung gegenüber meiner Familie und die damit verbundene finanzielle Absicherung. Die Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs Anfang der 90er Jahre war nicht einfach. Viele Kollegen hatten Angst um Ihren Job und die finanzielle Sicherheit. Das Kinderheim gehörte 1990/91 dem Land Sachsen. Dies wollte die Einrichtung schließen. Aber die Kollegen wollten, dass es weitergeht. Viele Träger waren mit verschiedenen Ambitionen vor Ort, um das Heim als Träger zu übernehmen. Letztendlich hatte Herr Rusch vom Louisenstift das am passendsten Konzept für uns.
Ein weiterer Grund, dass ich so lange der Arbeit in Brauna treu geblieben bin, ist die Aufgabenvielfalt. So war ich zum Beispiel als Einzelbetreuer und als Teamleiter einer Gruppe, tätig und habe dabei immer dazu gelernt. Eine bestimmte Zeit hatte ich die Verantwortung für eine Außenwohngruppe in Neukirch übernommen und war auch interimsmäßig als Hausleiters in Brauna tätig.
Gibt es berührende Momente in Deiner über 40-jährigen Tätigkeit an die Du noch heute erinnern kannst?
Ja, da gibt es mehrere. Zum einen war es zu DDR Zeiten (vorherrschende Mangelwirtschaft) schön anzusehen, wenn die Kinder sich über seltenes Spielzeug riesig und echt gefreut haben wie z.B. ein ferngesteuertes Auto.
Eine spätere Begebenheit an die ich mich erinnere und die mich sehr berührt hat, geschah auf einem Abschlussfest bei uns auf dem Gelände. Ein 16-jähriger Junge weinte bei diesem Fest, weil er Brauna verlassen musste.
Und abschließend noch ein Besuch, der unterstreicht wie wichtig und nicht umsonst unsere Arbeit als Pädagogen war und ist. Ein ca. 50-jähriger Mann besuchte vor ca. 4 Jahren unsere Einrichtung in Brauna. Er hatte seine zwei Töchter mit und stellte mich ihnen stolz als den damaligen Erzieher, der ihn als 5. Klässler Anfang der 80er Jahre betreute, vor.
1993 wurde das Kinderheim Brauna vom Louisenstift übernommen. Du gehörst zu den wenigen Kollegen des Louisenstiftes die als Pädagogen in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen gearbeitet haben. Was waren die größten Unterschiede? Gibt es auch Gemeinsamkeiten.
Klar gibt es da Unterschiede. Zuallererst war die Einstellung der Gesellschaft zum Kind anders. In der DDR sollte das Kind zu einer sozialistischen Persönlichkeit erzogen werden, bei dem das Individuum nicht so eine große Rolle spielte. Die praktische Erziehungsarbeit gestaltete sich anders. So waren die Gruppenstärken viel größer als jetzt. Im Haus wohnten damals vier Gruppen mit ca. 15 Jungen im Alter zwischen 9 – 16 Jahren. Es herrschte eine extreme Reglementierung. Freizeitmöglichkeiten wurden durch die Kinder mehr genutzt. Das pädagogische Personal ist damals in seinen Handlungen eher an Grenzen gestoßen.
Heute ist das Augenmerk daraufgelegt, die Kinder in ihrer Persönlichkeit zu stärken und ihnen gutes Rüstzeug mit auf den Lebensweg zu geben. Es wird gemeinsam geschaut welche Ressourcen besitzt das Kind, der Jugendliche. Das Individuum steht mehr im Mittelpunkt. Es gibt kleinere Gruppen und je nach Bedarf auch Einzelbetreuungen. Notwendige Regeln bestimmen das Gruppenleben auch heute. In der heutigen Zeit verbringen die Kinder und Jugendlichen viel Zeit mit elektronischen Medien. Dies stellt eine große Herausforderung im Gruppen- und Erziehungsalltag dar.
Damals gab es nur wenig Vielfalt in der Trägerlandschaft (Staat, Kirche…). Dies hat sich sehr geändert. Die Arbeit des Erziehers hat sich mit den gesellschaftlichen Umgestaltungen auch geändert. Heute muss ein Erzieher sich viel mehr reflektieren, sein pädagogisches Handeln dabei konform an den aktuellen Anforderungen ausrichten. Es ist kein einfacher Job.
Als Gemeinsamkeiten in der pädagogischen Arbeit sehe ich das strukturierte Arbeiten, die Notwendigkeit einer guten Ausbildung und das damals wie heute die Finanzen in der Kinder -und Jugendhilfe oft knapp bemessen sind.
Wie hat sich die Arbeit mit den Kindern – und Jugendlichen im Bereich der stationären Kinder und Jugendhilfe in den letzten 25 Jahren verändert?
Die Arbeit ist allgemein mental anstrengender geworden. Die Fallkonstruktionen sind komplexer und traumatisierter geworden. Deshalb ist oft eine Spezialisierung (durch Trägervielfalt) nötig. Das Personal muss heute vielseitiger und spezieller ausgebildet sein. Als pädagogischer Mitarbeiter muss ich viel mehr „aushalten“ können.
Als die größte Veränderung der letzten 10 Jahre sehe ich die hohe Präsenz der Medien, die eine große Rolle im Leben der Kinder und Jugendlichen spielen.
Und dann finden die Träger immer weniger Menschen, die bereit sind im Schichtdienst zu arbeiten.
Heute wird viel von der Work- Live- Balance gesprochen. Wie hast Du es geschafft Familie und Beruf (Schichtsystem) unter einen Hut zu bekommen?
Als die Kinder klein waren arbeitete meine Frau ja auch in Brauna im Gruppendienst. Wir sind oft in Gegenschichten auf Arbeit gegangen und hatten aber auch ein gutes Netzwerk (z.B. Familie). Gemeinsame freie Zeit haben wir als Familie genutzt für Unternehmungen in der nahen Umgebung.
Später war und ist für mich wichtig die Freizeit zur Regenerierung zu nutzen. Man muss dabei aber aufpassen nicht in eine Art Freizeitstress zu verfallen. Wichtig ist es einfach auch mal die Seele baumeln zu lassen.
Was für mich noch dazu gehört, ist in einem gut funktionierenden Team zu arbeiten und Spaß miteinander zu haben. Ein guter Chef, der einen akzeptiert, bei dem man sich gut angekommen fühlt, spielt auch nicht unerheblich eine Rolle. Diese Erfahrung habe ich all die Arbeitsjahre gemacht.
Was würdest Du einem jungen Kollegen, der nach seiner Erzieherausbildung in das Berufsleben (stationäre Kinder- und Jugendhilfe) startet als Rat mit auf den Weg geben?
Er sollte sich seiner eigenen Stärken bewusst sein und diese in die Arbeit mit einbringen. Des Weiteren sollte er in der Lage sein den Kindern und Jugendlichen etwas mit auf den Weg zu geben.
Die pädagogische Begründung für sein liebevolles, konsequentes und grenzsetzendes Handeln sollte stets im Vordergrund stehen. Solch ein Handeln lohnt sich. Die Kinder können so dankbar sein für das was man tut, auch wenn sie es nicht immer so offen zeigen.
Gibt es etwas, was Du ab dem 01.07.2023 vermissen wirst?
Mir wird vor allen Dingen der Kontakt zu den Kollegen und Kolleginnen im Team fehlen, das Erzählen, Probleme besprechen und nach Lösungen suchen und das frotzeln. Aber auch die schönen Erlebnisse mit den Kindern und Jugendlichen wie z.B. Fußball spielen, Wandern oder Kanu fahren.
Was ich auf keinen Fall vermissen werde, ist die Schichtarbeit und die 24h Dienste.
Hast Du den schon Pläne und Ideen für Dein zukünftiges Rentnerleben?
Endlich habe ich dann Zeit für meine Familie und jedes Wochenende frei zur Verfügung. Ich nehme mir dann Zeit für Museums- und Kinobesuche und kann mich im Fitnessstudio betätigen. Auch die Arbeit auf unserem Grundstück wird mich in Bewegung bleiben lassen. Aber konkret steht in diesem Sommer mit Freunden noch eine Woche Ostseesegeln und der Besuch des Heavy Metallfestivals in Wacken an.
In Kamenz steht 2025 das 800-jährige Stadtfest an. Dafür wurden noch Stadtführer gesucht. Da kam mir die Idee mich für den Vorbereitungslehrgang anzumelden. Vielleicht treffe ich den einen oder anderen Kollegen dann auf einer Stadtführung in Kamenz wieder.
Gert ich danke für das Interview und wünsche Dir eine ausgefüllte aktive Zeit als Rentner.